Südost Indien

 

Lange schlendern wir am Abend am Strand von Kanyakumari entlang und geniessen die Atmosphäre dieser Kleinstadt am südlichsten Zipfel Indiens. Viele Inder kommen hierher, einfach nur um Urlaub zu machen oder in den für Hindus heiligen Wassern dieses Zusammentreffens zweier Ozeane zu baden. Es ist eine seltsame Stimmung zwischen religiösen Ritualen und einem allabendlichen Treiben in einem Seebad.

Schon seit Tagen sprach Thomas von der Stadt Madurai und dem Sree Meenakshi Tempel, dem wohl schönsten Beispiel der drawidischen Baukunst in ganz Indien. Von den bis zu 50 Meter hohen trapezförmigen Türmen, die mit abertausenden bunten Götterfiguren geschmückt sind. Von den aussagekräftigen Bildern, die er hier für unseren Vortrag schiessen möchte. Im Zickzack der schmalen Gassen bewegen wir uns hochgespannt auf den Tempel zu. Dann das blanke Entsetzen nicht nur einer, sondern alle zwölf Türme sind mit Bambusgerüsten und Palmblättern überdeckt. Restaurierungsarbeiten und das schon seit einem Jahr. Wie wir erfahren, sind wir drei Wochen zu früh (hier können daraus aber durchaus drei Monate werden), bis der Tempel wieder in alter Pracht mit frischen Farben über der Stadt leuchtet.

Madurai

Doch im Inneren der hohen von schlanken Säulen gestützten Hallen erleben wir hingebungsvolle Verehrung der Göttin Meenakshi. Das düstere Grau des Bodens und der Pfeiler geht in eine farbenprächtige Deckenverzierung mit aufwändigen Ornamenten über, durch die fahles Tageslicht in langen Lichtstreifen die Räume schemenhaft erhellt.

03.02.09, der Fahrtag ist lange, trist und öde. Am Strassenrand liegt ein toter Mann. Die massiven offenen Schädelverletzungen weissen auf einen Unfall hin. Wir halten an und stehen hilflos da. Hunderte müssen schon vorbeigekommen sein, doch nichts tut sich. Es dauert lange, bis gelangweilt die Polizei erscheint. Es sei nur Eines in Kürze erwähnt, ob die Unfallursache überhaupt geklärt werden wird, bleibt äusserst ungewiss. Nachdenklich setzen wir unseren Weg fort.

Rast

Pondycherri, die ehemalige französische Kolonie, wir fühlen uns hier eher wie im mediteranen Südfrankreich als in Indien. Alter, teilweiser verwitterter französischer Charme, eine in den Meerbriesen noch immer wehende Trikolore und ein durch die Gassen schallendes Lied von Edith Piaff, wir reiben uns verwundert die Augen. Indien und Frankreich so nahe beisammen, wie Notre Dame und der Eifelturm.

Entlang der Küstenstrasse geht es heute nur 100 km nordwärts, Zeit genug um die Pisten in den dichten Wäldern abseits der Strasse zu erkunden. Unser Tagesziel Mamallapuram, ein kleiner Fischerort, wurde von der Flut des Tsunami 2004 stark beschädigt, doch nichts erinnert mehr an die verheerende Welle. Die kleine wunderschön verzierte steinerne Tempelanlage am Stadtrand aus dem 7. Jahrhundert wurde vor 200 Jahren von englischen Forschern aus dem Sand gebuddelt.

Tempel von Mamallapuram

Es ist Zeit ein kleines Resümee über die indische Mentalität zu ziehen. Eine oft spürbare Gleichgültigkeit, die vieles einfach und leichter erscheinen lässt, jedoch auch erfahrene Indienreisende an den Rand der Weissglut bringen kann. Gerade wenn wie heute eine lange, anstrengende, dazu noch ermüdende Etappe von über 550 km auf dem Programm stand. Zunächst sei bemerkt, dass auch nur minimales Umweltbewusstsein dem Grossteil der Bevölkerung völlig unbekannt ist. Dies hört vielerorts direkt vor der eigenen Haustür auf. Möchte man die im Laden gekaufte leere Getränkeflasche wieder zurückgeben, so erhält man von dem Eigentümer mit einer laxen Handbewegung den genialen Tipp, diese einfach vor seinem Geschäft auf den Boden zu werfen. Darauf hätten wir auch selbst kommen können. Viel schwieriger ist es vorher überhaupt an das gewünschte Getränk zu gelangen. “Haben sie Seven Up?” “Ja sicher!” “Gut, zwei Flaschen bitte!” Ich bekomme dann zwei Flaschen Pepsi in die Hand gedrückt. “Entschuldigung, ich hatte zwei Seven Up bestellt.” “Tut mir leid, Seven Up habe ich nicht!” In einem Restaurant bestellen wir dann scharf gewürzte gebratene Kartoffeln und erhalten kommentarlos frittierten Blumenkohl. “Wir hatten doch gebratene Kartoffeln bestellt!” “Sorry, sorry, Sir.” Der Teller geht zurück und drei Minuten später bekommen wir den Blumenkohl dekoriert mit drei dünnen Kartoffelstücken wieder vor die Nase gestellt. In jedem zweiten Hotel tropft der Wasserhahn oder die Toilettenspülung leckt, heute im “Grand Residency” in Vijayawada gleich beides zusammen. Unmengen des wertvollen Trinkwassers gehen so verloren, doch niemand scheint es zu stören. Dafür kommen heute aus dem Duschkopf nur zwei scharfe Wasserstrahlen. Auf der Strasse hämmern rund 80 Dezibel auf unsere Ohren ein, nicht unüblich für eine kleine typische indische Stadt wie Vijayawada mit ihren 1,5 Millionen Menschen. Schnauze voll von Indien? Nein bestimmt nicht, es war nur ein anstrengender Tag, an dem wir über die eine oder andere Gleichgültigkeit einmal nicht schmunzeln konnten.

Frauen

05.03.09. Heute geht es ins Landesinnere, weg von der Küste in den Bundesstaat Chattisgarh. Hier leben noch Indiens “Ureinwohner” in den Wäldern des Kangertals. 35 Völker mit eigener Sprache, Kultur und Kleidung. Nur wenige Gebiete sind überhaupt zugänglich. Das Land lechzt jetzt schon nach Kühle und Regen und der Monsun kommt erst in zwei bis drei Monaten. Bis dahin wird es hier fast unerträglich heiss. Eine fast verdorrte Waldlandschaft mit dürren Rinder- und Ziegenherden, überall lodern kleine Buschbrände, die bedenklich nahe an die völlig heruntergekommene Fahrbahn herankommen. Hier haben wir Wellblech auf Asphalt, nur lässt sich wie auf einer Piste kein Rhythmus finden um mit der richtigen Geschwindigkeit über die Unebenheiten hinwegzugleiten. Manchmal habe ich das Gefühl, unser eigenes Hinterrad will uns überholen. Tankstellen sind hier nicht zu finden und so müssen wir uns mit dem schlechten Sprit aus Plastikflaschen der Dorfbewohner begnügen. Doch auch hier, in einem bitterarmen Gebiet, in dem kaum ein Haus aus Stein gebaut ist und nur aus Lehm, Stroh und Palmblättern besteht, spielt die Politik eine grosse Rolle. Es ist eine Hochburg der Naxaliten, eine kommunistische Bewegung, die seit 40 Jahren teilweise einen Gueriliakampf gegen Grossgrundbesitz und Delhi führt. “This area is very dangerous, be careful!”, warnten uns besorgte Strassenbegegnungen. Wir selbst erfahren hiervon nichts, stellen uns den Fragen über uns und das Motorrad und albern mit den Kindern herum.

In Jagdalpur finden wir ein “Mittelklassehotel” und sind wie so oft die einzigen nicht indischen Gäste. Bis auf die giftgrünen Wände in unserem Zimmer sieht Alles gut aus, doch als im Restaurant aus einem Lüftungsschacht eine riesige Ratte auftaucht und zwischen unseren Beinen auf Futtersuche geht, ist es Zeit uns auf ein wohlverdientes Bier auf unser Zimmer zurückzuziehen. Neben Ratten im Restaurant, indigen Völkern, Naxaliten und ursprünglichem Leben bietet die Region noch ein wirkliches Highlight. Es sind die Chitrakot Falls. Die Wasserfälle sind nur ein Drittel kleiner als die Niagarafälle. Doch nun in der Dürrezeit stürzen lediglich zwei Wasserarme in die Tiefe. Im Monsun und kurz danach läuft hier der Vollwaschgang und der zum Bersten gefüllt Fluss stürzt laut tosend in die Tiefe. Sonderbar, wie die Mentalität der Menschen wechselt. Vom offenen, lockeren und warmherzigen Süden hier nach Chattisgarh. Stur, abweisend und unfreundlich. Wir denken, dass uns hier im Falle eines Falles nur wenig Hilfe entgegengebracht wird. Nirgendwo auf unseren Reisen fühlten wir uns so einsam und vergessen vom Rest der Welt wie hier.

Wasserfall

Hier an der langen Elle Indiens, von Chennai nach Kolkata, wird uns abermals die Dimension dieses Landes bewusst. Über 1800 km zeigt das Hinweisschild an der Strasse an. Es ist so, als ob in Frankfurt/Main ein Vorwegweiser “Rom” auf der Autobahn zu finden ist.

In Puri kommen wir wieder an dem Golf von Bengalen an. Es ist ein bedeutendes Pilgerzentrum mit streng verschlossenen Tempeln unzugänglich für jeden Nichthindu. Puri war jedoch vor über 30 Jahren ein Anlaufpunkt der Hippies aus Europa. Noch immer bekommt man heute an fast jeder Strassenecke Haschisch oder Bang, ein Joghurtgetränk mit zerstossenen Marihuanablättern, angeboten. Wir finden hier ein altes Hotel mit riesig grossen Zimmern, die eine Art Krankenhausstimmung der dreissiger Jahre aufkommen lassen. Und siehe da, da ist noch einer, der zurückgekommen ist. Ein 78 jähriger Franzose, der über 40 Jahren mit Bus und Bahn der alten Hippieroute von der Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan seinen Weg nach Puri fand, nun mit uns an einem Tisch sitzt und alleine reisend auf den alten eigenen Spuren seinen Weg wieder hierher gefunden hat. Lange und interessiert sitzen wir da und hören uns die Geschichten längst vergangener Travellertage an.

Die Landschaft um Puri ist geprägt vom ursprünglichen dörflichen Leben. Kleine Siedlungen liegen versteckt in schattigen Palmenhainen, die von leuchtend grünen, triefend nassen Reisfeldern eingerahmt sind. Männer und Frauen mit bunten Kleidern bestellen die Felder. Kühe, Ziegen und Federvieh tummeln sich in den erdigen Gassen der Ortsdurchfahrten. Hier scheint ein kleines Idyll erhalten geblieben zu sein.

Am Nachmittag des 09.03.09 liegt der Stadtrand von Kolkata vor uns. Ganz bewusst haben wir uns diese 15 Millionenmetropole ausgesucht, um eine indische Megacity näher zu erkunden. Gerade um diese Stadt ranken sich Mythen und Klischees von Elend, Schmutz, Mutter Teresa, Bettlern, dem Sterben auf den Strassen und dem Dahinvegitieren zwischen Bahngleisen. Wir möchten selbst herausfinden was wahr ist an dem Bild Kolkatas, das wir im Westen aus Magazinen und Fernsehen kennen. Um es vorweg zu nehmen, die Wahrheit liegt wie so oft dazwischen. Wir hatten grossen Respekt vor dem Verkehr, den endlosen Staus, die dunkle Smogwolken über die Stadt legen sollen und das Atmen zur Qual werden lassen. Doch hiervon keine Spur, es läuft aalglatt und nach kurzer Zeit überqueren wir den breiten Hooghly Fluss über die futuristische Kolkata Bridge. Fünf Minuten später stehen wir im Stadtzentrum vor unserem Hotel.

Zwei Tage länger als geplant erkunden wir intensiv die Stadt, auch abseits der üblichen Wege. Ein Feiertag und eine durch DHL verspätete Lieferung unseres neuen Hinterreifens ermöglichen es uns noch mehr zu erleben. Kolkata ist die letzte Gelegenheit, um den restlos schuppig gefahrenen Reifen gegen einen neuen zu tauschen. Mit dem alten, der durch unzählige heftige Brems- und Beschleunigungsmanöver aus den vergangenen 9500 km seine besten Tage gesehen hat, würden wir auf den kommenden 4000 km Kathmandu nicht erreichen. Unsere Erfahrungen in und mit Koklkata sind durchaus positiv. Die Stadt ist nicht sonderlich schmutziger als andere indische Städte auch. Die Menschen weltoffen und hilfsbereit. Dennoch ist Armut und Elend stark vertreten und allgegenwärtig. Viele leben hier auf den Gehwegen und haben sich mit Teller und Tasse, einer einfachen Decke und ein wenig Habseeligkeiten fast schon häuslich niedergelassen. Diese Menschen sind die Verlassenen der Gesellschaft und müssen sich durch Betteln oder als Rikscha Wallah (nur noch in Kolkata werden Rikschas von Menschenkraft gezogen) eine Hand voll Reis für den Abend erarbeiten. Die Stadt ist jedoch reich an alten kolonialen Gebäuden, mal aufwändig restauriert, mal sich selbst überlassen, die in uns eine seltsame Stimmung hinterlassen. Gerade die alten verlassen erscheinenden trotzigen Stadthäuser mit von Moos und Feuchtigkeit überzogenen Säulen und Balkonen, die dunkel, fast schon bedrohlich über den Strassen thronen, erscheinen wie eine Kulisse wie aus einem Endzeitfilm.

Kolakata

Die quietschgelben Ambassador Taxis, die zu tausenden durch die Strassen tuckern, runden dieses surreale Bild ab. Das Viktoria Memorial mitten in einem riesigen Park gelegen ist das wohl beeindruckenste Gebäude aus der britischen Kolonialzeit in ganz Indien. Eine schiere Demonstration von Macht und Grösse der einstigen Herren. Kolkata ist eine Weltstadt mit vielen Facetten, mit den guten und schlechten Seiten einer Metropole. Kolkata regt zum Entdecken an, macht nachdenklich. Manchmal schrill, mal modrig morbide, modern und gleichzeitig mittelalterlich in den engen Gassen der ärmeren Gebiete. Kolkata fasziniert und fesselt ist aber bei Leibe kein nur stinkender Molloch, wie so oft beschrieben.